Rede zum 08. Jahrestag des Genozids an den Jesid*innen

Veröffentlicht am 03. August 2022

Am 03. August 2022 durfte ich im Neuen Schloss in Stuttgart eine Rede zum 8. Jahrestag des Genozides an den Jesid*innen halten. Das war mir eine große Ehre.  An der Gedenkveranstaltung nahmen auch die UN-Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, die Autorin Farida Khalaf und die baden-württembergische Landtagspräsidentin Mutherem Aras teil.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ganz herzlich möchte ich mich bei Ihnen für die Einladung zu dieser Veranstaltung bedanken.

Es ist mir eine Ehre und macht mich demütig, in der Gesellschaft von Frau Khalaf, Frau Murad, Frau Rasho und Frau Alneamat sprechen zu dürfen. Ihnen sowie den weiteren Überlebenden des grausamen Genozids an den Jesid*innen gilt unser tiefes Mitgefühl für das Erlebte und unsere außerordentliche Anerkennung für die überragenden emotionalen und gesellschaftlichen Leistungen, die Sie seitdem für die gemeinsame Trauer, die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, das Gedenken und die Aufarbeitung dessen, was in der Nacht vom 2. auf den 3. August vor acht Jahren geschah, erbracht haben. 

Als der IS vor acht Jahren den Genozid an den Jesid*innen beging, war das der Gipfel eines Kampfzuges gegen Menschlichkeit, gegen Zivilisation, gegen Aufklärung. Das Buch von Frau Khalaf „Das Mädchen, das den IS besiegte“ zeugt davon, wie die Überlebenden des Genozids vor dem Hintergrund des Grauens nicht nur ihre eigene Identität verteidigen. Sie verteidigen die Zivilisation, die Menschlichkeit und die Aufklärung für uns alle! 

Doch die zivilisatorische Decke ist dünn. Das ist die Erkenntnis, die ich aus meiner Reise in die Region Kurdistan-Irak als Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Menschenrechtsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss vor zwei Monaten mitgenommen habe. Einer der Schwerpunkte unserer Gespräche und Besuche war die Lage von Geflüchteten und insbesondere der Jesid*innen und Minderheiten aus dem Sinjar.

In der Region ist an eine Rückkehr in ein Leben in Sicherheit nicht zu denken: Der IS und andere Gewaltakteure sind punktuell immer noch eine immense Bedrohung und so dauern Vertreibung und Zerstörung an. Wir trafen vor Ort Menschen, die bereits dreimal in ihre Dörfer zurückgekehrt waren, nur um erneut durch Raketenangriffe wieder vertrieben zu werden. Die Situation in den Camps für die über 300.000 Binnenvertriebenen verschlechtert sich zusehends – ein Zustand, vor dem wir uns nicht wegducken dürfen, sondern für den wir Verantwortung übernehmen müssen. Die Bundesrepublik Deutschland ist zwar der zweitgrößte zivile Geldgeber und unterstützt starke Projekte, die wir vor Ort besuchen konnten: So zum Bespiel das multiethnische und multireligiöse Projekt der Organisation Hawar.help.

Es grassiert aber dennoch eine Perspektivlosigkeit in den Camps, die mich sehr betroffen macht. Mehrere Hundert Kinder können nicht in ihre Gemeinden und Dörfer zurückkehren. Sie werden nicht als Jesid*innen anerkannt. Die Verantwortung wird zwischen den Parteien hin und her geschoben, während diese Kinder und ihre Mütter weiter in den Camps ausharren und kaum auf Unterstützung von der Zentralregierung hoffen können. Die traumatologische Arbeit von Prof. Dr. Dr. Kizilhan ist nicht nur deswegen von herausragender Bedeutung. Auch die Beweissammlung von UNITAD, die wegweisende Urteile wie das vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main überhaupt erst ermöglicht, ist essentiell für die Aufarbeitung und ein Gefühl von Gerechtigkeit.

Doch eins wurde mir vor Ort ganz klar: Die IDP-Camps sind vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und sicherheitspolitischen Lage zwar ein notwendiger Dauerzustand. Sie dürfen jedoch keinesfalls zur Normalität werden. Es braucht unser aller Einsatz, um hier Lösungen zu finden.

Darüber hinaus wurde mir im Gespräch mit jesidischen Vertreter*innen wie dem Prinzen und der Ehrenträgerin des Hohen Rates der Jesid*innen, Daye Meyan, in ihrem Heiligtum in Lalesh einmal mehr deutlich, wie symbolträchtig und absolut zentral die Anerkennung des Genozids durch das deutsche Parlamentes für die Jesid*innen ist. Denn Deutschland trägt hier Verantwortung.

Deutschland trägt eine besondere Verantwortung, vor Völkermord niemals die Augen zu verschließen, sondern aktiv auf strafrechtliche Verfolgung und gesellschaftliche Aufarbeitung hinzuwirken.

Deutschland trägt auch als Heimat der größten jesidischen Diaspora der Welt eine besondere Verantwortung für die jesidische Gemeinschaft.

Deutschland trägt diese Verantwortung ebenso gegenüber seinen Bündnispartnern in der Welt. Wir müssen auch sie dazu ermahnen, für Frieden und Stabilität in der Heimatregion der Jesid*innen zu sorgen. Und ich bin der Außenministerin überaus dankbar, dass sie genau dies bei ihrem Besuch in der Türkei letzte Woche getan hat.

Deutschland trägt eine Verantwortung für humanitäre Hilfe, für friedenspolitisches Engagement und Vermittlung mit Blick auf die Sinjar-Region, aber für noch viel mehr: 

Deutschland trägt Verantwortung dafür, jesidisches Leben in der Welt zu schützen und das Fortleben der jesidischen Gemeinschaft zu ermöglichen. Der Völkermord an den Jesid*innen wir weiter andauern, wenn wir als Weltgemeinschaft nicht aktiver werden. Der IS hat gezielt Frauen als Opfer gewählt, um Nachfahren für ein jesidisches Leben in der Region bereits bevor sie geboren wurden für tot zu erklären.

Bei diesem Post-Völkermord dürfen wir nicht zusehen. Wir müssen jesidisches Leben gezielt zu einer neuen Ära verhelfen. Politisch, juristisch und mit all unserem Wissen auf dem Gebiet der Traumabewältigung.

Und deswegen setze ich mich im Bundestag dafür ein, dass der Völkermord an den Jesid*innen durch das deutsche Parlament anerkannt wird.

Liebe Farida Khalaf, in der Widmung meiner Ausgabe Ihres Buches, die sie mir überreicht haben, haben Sie mir für mein Engagement gedankt. Das Engagement eines Abgeordneten ist aber so klein angesichts des großen Leids, das ihre Gemeinschaft erfahren hat. Es ist so klein angesichts der großen Leistung, die Sie für die ganze Menschheit erbringen, indem Sie, Nadia Murad und so viele weitere über dieses schreckliche Unrecht sprechen und das Gedenken hoch halten.

Ich verneige mich tief vor den Opfern und Überlebenden des Genozids an den Jesid*innen.

Vielen Dank.

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